Figurinen

Mit Texten von Katharina Bütikofer

"Die Zwiesprache mit der Natur bleibt für die Künstler*in conditio sine qua non.

Die Künstler*in ist Mensch, selber Natur und ein Stück Natur im Raume der Natur."

Paul Klee, 1923

Dieses Bekenntnis zur Natur als Grundlage der Inspiration trifft auch für Ursula Strickers grosse Werkgruppe "Figurinen" zu. Noch bevor die Idee dieser Skulpturen Form annahm, sammelte sie immer wieder und absichtslos Naturfragmente wie Kieselsteine, Samen, dürre Äste, skurrile Wurzeln, Muscheln, Schneckenhäuser. Vielen Menschen sind solch kleine Sammelfreuden vertraut: wer hat nicht schon einmal zufällig eine schöne Vogelfeder gefunden und aufgehoben, wer nicht aus der Unendlichkeit der Steine am Strand einen besonderen ausgewählt und in die Hand genommen? 

Etwas Anderes ist es jedoch, wenn sich aus solchen Sammlungen etwas Neues entwickelt, wenn ein Ast zum Arm wir, wenn ein Rindenstück zum Faltenwurf, eine knorrige Wurzel zum Bückling, ein bleicher Knochen zur archaisch anmutenden Statuette wird. Solche Verwandlungen realisiert Ursula Stricker variationenreich in ihren Figurinen: Es entsteht allmählich eine grosse Gruppe ausdrucksstarker Wesen mit unterschiedlichen Charakteren: ernsthaft, witzig, ruhig, pathetisch, tanzend, träumend. Die Entstehung der Figurinen ist ein langsamer Prozess, ein achtsamer Dialog mit dem Material: Sie reinigt, schleift, nimmt weg, fügt hinzu, setzt sparsame Farbakzente, akzentuiert plastische Strukturen, betrachtet das Entstehende dauernd in Rundumansicht. Als Tänzerin hat sie das Gespür für die Bewegung der plastischen Form im Raum.

Anstelle von Titeln begleitet sie ihre Figurinen teilweise mit in kürzeste Form gefasste persönliche, poetische Statements wie:


"Gleichgewicht beginnt in uns selbst"

"Innehalten - innen Halt finden"

"in der Natur sich selbst begegnen - der Natur in sich selbst begegnen"

Ein Gestaltungselement ist für alle Figurinen ähnlich und beachtenswert: Die Gestaltung der Basis der durchwegs stehenden und sich aus der Schwerkraft lösenden Gebilde. Alberto Giacometti ist bekannt durch die oft grossen, massigen Füsse, die seine feinen, auf wenig Masse beschränkten Bronzeplastiken im Kontrast mit der Erdung durch diese Füsse noch feiner und magischer schreiten lässt. Ursula Strickers Figurinen wachsen aus organischen Sockelfüssen heraus. So stehen sie fest und gleichzeitig bewegt im Raum und spielen der alten Sockelproblematik ein Schnippchen, indem Fuss und Sockel zur Einheit verschmelzen. Dies ist auch eine Hommage der Tänzerin an die Füsse, ohne die kein Stehen, Gehen oder Tanzen möglich ist.

Ursula Stricker hat ihre Figurinen in grossen Installationen in persönlich gewählten Orten eindrucksvoll gezeigt. Im Chor der benediktinischen Klosterkirche Kirche St. Johannsen, dem Raum Oktogon an der Aare im Marzili und Supercinema in Tuscania in Italien. Durch Distanz und Nähe, durch den Dialog mit der Architektur, durch Beleuchtung, durch Reduzierung auf Umrissformen, konnten die Besuchenden ihre Wahrnehmung schärfen, den Blick vom Einzelnen zur grossen Einheit schweifen lassen und so das Figurinenwerk besonders intensiv erleben.


Buch: Figurinen, 2010

Installationen - Räume der Figurinen

«Aus dem Schosse der Natur» - Installation der Figurinen von Ursula Stricker in der Klosterkirche St. Johannsen, 2005

 

Katharina Bütikofer
Künstlerin und Kunstvermittlerin

Studium für Bildnerisches Gestalten in Bern und Paris. Lehrtätigkeit an Berner Seminaren und Dozentin für Fachdidaktik. Kunst und Gestaltung an der UNI Bern und an der Hochschule der Künste HKB. Studienaufenthalt in USA, Leitung der Museumspädagogik am Kunstmuseum Bern, Kurs- und Kunstreisleiterin. Lebt pensioniert in Bern.