Zeichnung

Mit Texten von Katharina Bütikofer


"Lass es werden, was es will, lass es ruhig etwas anderes werden. Lass dich überraschen.
Manchmal wirst du staunen, dass du so etwas zustande gebracht hast."

E. Pedretti

Vier Linien berühren die weisse Fläche mit Schwung und mehr oder weniger Druck, verschwinden beinahe im Nichts und schwellen wieder kräftig an, verbinden sich an einem Treffpunkt. Eine zieht allein ihren kräftigen Bogen. Ein Gesicht, das lächelt und gleichzeitig schläft und wacht? Dieses Rätsel, diese Faszination, die von der Zeichnung ausgeht, zieht sich durch das zeichnerische Werk von Ursula Stricker.

 

Frühe Zeichnung

"Tausend Striche können tausend Dinge sagen und ein einziger alles"

A. Marfaing

Ursula Stricker zeichnete schon als Kind intensiv und rettete diese Leidenschaft ins Jugendalter und in ihr ganzes Leben hinüber. Gewisse Charakteristika werden schon wie Leitmotive sichtbar. In dieser frühen Zeichnung bildet ein Teppich aus «tausend Strichen» ein formatfüllendes Liniennetz, das sich verdichtet, aber auch weisse Räume, Durchblicke zulässt. Unweigerlich zielt das Auge auf die sich im Weiss bewegende Figur. Fragil, aus wenigen Linien gebaut und doch auf standfesten Füssen, behauptet sie sich in ihrem Umfeld. Das Blatt mit der Zeichnung zarter, surreal bewegter Formengirlanden weist schon auf spätere, in textartigen Zeilen angeordneten Zeichnungspartituren hin. Die Farbe, die das Werk von Ursula Stricker kontinuierlich begleitet, scheint in dem Aquarell mit der rätselhaft verschlungenen Formenblüte vor dunklem Grund zart und differenziert auf.

 

Zeichnungen aus der neuen Welt: NY - Shuttle-Drawings

"Zeichnen ist eine gestalterische Direktheit, der direkteste Weg des Sichtbarmachens, weil derselbe Körper, der alle Regungen produziert, versammelt und reflektiert, auch die Linie führt."

S. Boeschenstein

Die Jahre in den USA, besonders in der Weltstadt New York, waren prägend für Ursula Stricker. Im Zentrum stand das intensive Tanzstudium an der Quelle der neusten Tendenzen und Experimente des Modern Dance. Als kostbarer Ausgleich konnte sie ihre bildnerische Begabung neben dem Tanz eigenständig und unbeeinflusst weiter entfalten. Auf den langen Subway- Fahrten im N-Train entstanden poetische Blätter, in denen sie das Rütteln der alten, mit Graffitis total übersprayten Wagons einbezog und die Spur des Stifts frei dem Rhythmus des Zuges überliess. Es entstanden auch phantasievolle Kalligrafien mit sich stets verändernden Formerfindungen, manchmal an tanzende Wesen erinnernd. Das schreibende Zeichnen, das die Blätter wie Partituren eines Tanzes füllt, spiegelt das Ineinandergreifen von Tanz und bildender Kunst, das Ursula Stricker exemplarisch lebt.  


 
 

Akt – Augenblick des bewegten Körpers

"Ein Künstler sollte immer zeichnen; wenn er keinen Bleistift hat, dann mit den Augen."

J.A.D. Ingres

"Zeichnen ist Sehen und Bewegen", sagt Edgar Degas, der grosse Meister der bewegten Figur im Raum. Ursula Strickers Dreifachbegabung als Tänzerin, Tanzpädagogin und bildende Künstlerin ist eine glückliche Konstellation, die in ihren Aktzeichnungen zum Ausdruck kommt. Sie scheint in ihren Zeichnungen nicht nur das Äussere, sondern auch die innere Spannung der Figuren zu erkennen und sichtbar zu machen. Das Gelingen ihrer schnellen, wie hingeworfenen Zeichnungen, setzt langdauernde Auseinandersetzungen, Geduld des Beobachtens, visuelle Konzentration und eigenes Körperbewusstsein voraus. Dies zeigt sie in den mit sehr unterschiedlichen Techniken ausgeführten Aktzeichnungen: die rein linearen, schnittig reduzierten Linienskizzen, die expressiven Pinselzeichnungen mit Bewegungsüberlagerungen und dann die Blätter mit der ungewohnten Kombination der Grundfarben.


 

Der Pinsel, das kosmopolitische Werkzeug

"Dem Nichts eine Form zu geben, ist elementar befriedigend."

H. Binder


Neben Stiften und Stecken ist der Pinsel Ursula Strickers bevorzugtes Gerät. Der Pinsel, dieses Urwerkzeug, dessen Spur Kulturen, Kontinente und Zeiten überspannt, ist auch für sie ein zentrales Mittel des Ausdrucks geworden. Die Pinselsprache steht zwischen Zeichnung und Malerei und hat durch ihren Charakter etwas Gemeinsames mit Bewegung und Tanz. Ursula Stricker war schon als Kind fasziniert von japanischen Schriftzeichen auf Kalenderblättern und später begegnete sie der chinesischen und japanischen Kalligrafie in der Vielvölkerstadt N.Y. und dort auch den grossartigen Bildern der abstrakten Expressionisten, welche sie tief beeindruckten und inspirierten. Denn auch diese Kunstschaffenden, etwa Lee Krasner oder Marc Tobey, setzten sich intensiv mit östlichen Einflüssen auseinander. Ursula Stricker begab sich auf den Übungsweg der ostasiatischen Kalligrafie, fand zu ihren Kalligrafie-Meister*innen und deren Lehre, und konnte sich so über die Jahre in die Pinselkunst und ihre Hintergründe einleben. Aus dem andauernden Üben (zum Beispiel des Kreises), entwickelte sich eine eigene, von direkten Vorlagen befreite Pinselsprache, an deren Entwicklung sie auch in der Gegenwart weiterarbeitet.